Die planetare Perspektive

Die Welt erlebt epochale Umbrüche: Klimakrise, Pandemie und Kriege führen dazu, dass gesellschaftspolitische Fragen neu verhandelt werden müssen. So auch das Thema Energieversorgung, denn hier zählt neben Innovation und Technologie auch die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft leben möchten, weiß Dr. Frederic Hanusch. 

Herr Dr. Hanusch, derzeit ist viel los auf unserem Planeten – ist es eigentlich sinnvoll, große Krisen getrennt voneinander zu betrachten?

Was wir gegenwärtig sehen, sind mehrere Entwicklungen, die sich gegenseitig beeinflussen. Wir sehen, dass der Blick aufs große Ganze, auf die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaften und dem, was mit unserem Planeten geschieht, notwendig ist. Wir brauchen einen neuen Betrachtungswinkel.

Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir nicht auf einem Planeten leben, sondern Teil davon sind.

Welchen Betrachtungswinkel schlagen Sie vor?

Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir nicht auf einem Planeten leben, sondern Teil davon sind. Der Planet Erde wird fortbestehen, auch wenn es uns Menschen nicht mehr gibt, aber jede unserer Handlungen oder Nichthandlungen hat Auswirkungen auf unser weiteres Fortbestehen auf dieser Erde. Diese Perspektive möchten wir mit dem planetaren Denken anstoßen.

Man könnte durch eine planetare Sichtweise zu dem Schluss kommen, dass zum Beispiel die Energiefrage nicht einzelne Gesellschaften, sondern die Weltbevölkerung in ihrer Gesamtheit betrifft, richtig?

Genau, wenn wir die Energie und ihre Nutzung über einen langen Zeitraum betrachten, dann sehen wir, dass sich immer neue Abhängigkeiten gebildet haben. Es macht einen Unterschied, ob Gesellschaften Brennholz und Dung für den Energieeigenbedarf sammeln, Atomkraft nutzen oder ob man Ölfelder erschließt und dann eben auch in der Lage ist, zu exportieren und mit der sogenannten Bodenrente staatliche, meist autokratische Strukturen aufzubauen. Vor diesem Hintergrund sollten wir auch die aktuelle Diskussion um die Nutzung von Wasserstoff führen.

Für eine differenzierte Diskussion ist auch eine sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Forschung zu Energieformen wichtig, sagen Sie. Warum?

Es gibt erwiesenermaßen Wechselwirkungen zwischen Kulturen und der jeweils genutzten Energieart. Da besteht immer ein Austausch zwischen der Technologie selbst und der Art und Weise, wie Gesellschaften sich damit arrangieren, wie sie die notwendige Infrastruktur bauen und nutzen.
Mit Energie und deren Gewinnung geht also häufig einher, wie Gesellschaften langfristig funktionieren. Eine rein technologische Betrachtung ist deshalb nicht ausreichend, um etwa die Frage zu beantworten: In welcher Wasserstoffgesellschaft wollen wir eigentlich leben?

Das Umweltbewusstsein steigt – der CO2-Ausstoß allerdings auch.

Wie sehen heutige Gesellschaften die Chancen und Risiken verschiedener Energiequellen? 

Groß angelegte Umfragemodelle, wie zum Beispiel die World Value Surveys, können uns helfen, einen Einblick in die derzeitige Wertelandschaft der Weltbevölkerung zu bekommen. Wie hat sich etwa das Umweltbewusstsein verändert? Diese Verschiebungen in der Einstellung der Menschen zu spezifischen Themen bedeutet allerdings im Umkehrschluss nicht, dass sie auch dementsprechend handeln. Wir sehen in diesen Umfragen, dass das Umweltbewusstsein steigt – der CO2-Ausstoß allerdings auch. 

Könnten wir denn die planetaren Krisen, mit denen wir momentan kämpfen, als eine Art Antrieb für Entwicklungen im Energiesektor, speziell für die Wasserstoffforschung, nutzen? 

Historisch gab es bereits mehrfach diesen Zusammenhang, ja. Krisenhafte Momente wie nun der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine können so genutzt werden. Denken Sie zum Beispiel an den zweiten Atomausstieg nach Fukushima. Es kann vorkommen, dass sich dann eine Art Gelegenheitsfenster öffnet, in dem Veränderungen eher möglich sind. Das könnte auch beim Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft der Fall sein. 

Wie könnte sich denn eine vermehrte Energiegewinnung durch Wasserstoff auf unsere gesellschaftlichen Strukturen auswirken? 

Genau das gilt es zu erforschen. In sogenannten „Hydrogen Valleys“, von der EU ausgewiesenen Pionierregionen für die Wasserstoffnutzung, ist zu beobachten, welche Wasserstoffinfrastrukturen sich bewähren oder wo es Konflikte gibt, welche gesellschaftlich akzeptiert und vielleicht sogar mitgestaltet werden. Das ist unglaublich spannend. Hier wäre interdisziplinär zu erforschen, was zu den Menschen, den ökologischen Gegebenheiten und den ökonomischen Akteuren vor Ort passt, dabei aber auch weltweite wechselseitige Abhängigkeiten von künftigen Wasserstoffexporteuren im Blick zu behalten. Bestenfalls können die Ergebnisse Anregungen für weitere Regionen liefern, die auf die dortigen Gegebenheiten skaliert werden können. 

Sie plädieren dafür, diese Ergebnisse mithilfe einer planetaren Perspektive einzuordnen. Welche Chancen sind damit verbunden? 

Wir Menschen erlauben uns eine immense Eingriffstiefe in das Erdsystem, ohne die geeigneten politischen Institutionen zu haben, die damit umgehen und das auffangen können. Genau da setzt das planetare Denken an, dafür wollen wir mit unserer Forschung Lösungen entwickeln. Wir fragen: Wollen wir uns Energieträger aufbürden, wollen wir als Menschheit etwas in Gang setzen, das wir dann sehr lange, über Generationen hinweg, kontrollieren müssen? Oder sollten wir auf Optionen setzen, die wir zeitlich überblicken können, so wie beim Wasserstoff als Energieträger, produziert mit erneuerbaren Energien? Dann müssen sich künftige Generationen nicht um Altlasten kümmern und wir ermöglichen ihnen, in echter Freiheit zu leben.